Thursday, June 2, 2016

Das Lied vom totalen Scheitern von Erdoğans Außenpolitik

Ein unaufhörlich giftender, überaus brutaler, gefährlicher und despotischer Volltrottel:
der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan
#TerroristErdogan

Habt Ihr etwas Zeit für mich, dann singe ich ein Lied für Euch... ich nenne es "Das Lied vom totalen Scheitern von Erdoğans Außenpolitik". Es hat 13 'Strophen' (ich hoffe, dass bringt ihm Unglück!), ist auch sonst ellenlang und elends-lang und also keinesfalls lustig, aber eine alles andere als klammheimliche Häme kann ich mir in den meisten Fällen nicht verkneifen. Voilà!


Sturz von Assad

Der Populist Erdoğan hat nach Ausbrechen des sog. 'Arabischen Frühlings' 2011 immer wieder deutlich gemacht, dass sein früherer enger Verbündeter, der syrische Präsident, Diktator und Massenmörder Assad – nun doch – gestürzt werden müsse. Dies sei sogar das Hauptziel der türkischen Syrien-Politik. Klingt eigentlich nicht unsympathisch, aber was ist geschehen?
Hat er Assad auch nur ein einziges Mal am Morden gehindert, hat er ihn gar zu Fall gebracht?

Ergebnis:

Auch 5 Jahre nach Beginn des schrecklichen Bürgerkrieges in Syrien sitzt Assad noch fest im Sattel (vielleicht sogar fester denn je, auch wenn ich das selbstverständlich keinesfalls begrüße!). Die Syrische Armee hat im Verbund mit Russland wieder die Kontrolle über weite Landstriche gewonnen, teils von sog. 'Rebellen' unterschiedlichster Couleur, aber auch große, zwischenzeitlich von den IS-Terroristen (Daesh) besetzte Gebiete wie beispielsweise die Region um die berühmte Wüstenstadt Palmyra. Während die Türkei damit beschäftigt ist, die gegen Daesh kämpfenden Kurd*innen zu behindern und zu attackieren, wo immer es geht, kann sich Daesh in aller Ruhe wieder an der türkischen Grenze zwischen Azaz und Jarablus ausbreiten (siehe den Abschnitt weiter unten zu Erdoğans 'Pufferzone').

Wenn hoffentlich eines Tages irgendjemand noch Assad 'stürzen' oder zu einem 'geordneten Rückzug' aus der Politik bewegen kann, werden es sicherlich keine der von Erdoğan unterstützten Gruppierungen sein (sondern eher noch Loyalitätsverlust in den eigenen Reihen aufgrund des offenkundigen und leider wörtlich zu nehmenden Ausblutens des Landes, die von Erdoğan so verhasste kurdisch-multiethnische Allianz SDF, eine Vereinbarung zwischen Russland und den USA, ein UN-geführter Übergangsprozess und / oder Ähnliches bzw. alles zusammen). Aber auch ein langjähriges Verbleiben von Assad an der Macht ist (leider) schon seit langem nicht mehr auszuschließen – ich persönlich rechne überhaupt nicht mit einem Rückzug in diesem Jahrzehnt!
Angesichts der mittlerweile sehr zahlreichen Todesopfer der türkischen Syrien-Politik ein mehr als vernichtendes Ergebnis für Erdoğans von (vermeintlichem) Populismus getriebenene, blindwütige und aggressive 'Außenpolitik'.

Blog-Posts zum Themenfeld:
Pop & Elend (Okt 2015) Über Musik, Syrienkrieg und Flüchtlinge
Assad wurde Kriegsverbrecher des Jahres, Erdoğan Terrorist des Jahres, die EU Heuchlerin des Jahres.


Der 'unausweichliche' Fall von Kobanê

Kobanê hilltop (Northern Syria) seen from Suruc (Turkey) #TerroristTurkey (Winter 2014)
Photo by ARIS MESSINIS-AFP-Getty Images via Twitter

Ein Photo, das alles sagt: Ende 2014 hatte das – wenn es um Kurd*innen und Oppositionelle geht so schießwütige türkische Militär den IS (Daesh) direkt vor der Nase – und griff nicht ein. Stattdessen schaute man dem stattfindenden Massaker gegen die angrenzende syrisch-kurdische Stadt Kobanê seelenruhig zu. Die ihre blutige Flagge hissenden Dschihadisten auf diesem Hügel wären problemlos mit Distanzwaffen auszuschalten gewesen, dazu hätte die Türkei sich noch nicht einmal die Mühe machen müssen, die Grenze zu überqueren. Seit der erfolgreichen kurdischen Verteidigung der Stadt und der Region aber beschießt die Türkei seit Sommer 2015 fortlaufend das syrisch-kurdische Rojava.

Als ab September 2014 die kurdische Stadt Kobanê in Nordsyrien (Rojava) von den IS-Terroristen monatelang brutal belagert wurde, drehten die sonst so 'diensteifrigen' türkischen Soldaten auf der direkt benachbarten Grenzseite, das stattfindende Massaker gelangweilt auf ihren Panzern begutachtend, die Daumen – wenn sie bzw. die türkische (Militär-) Polizei nicht gerade damit beschäftigt waren, aus aller Welt angereiste Journalist*innen und die sorgenvoll über die Grenze schauende türkisch-kurdische Zivilbevölkerung mit Wasserwerfern und Tränengas anzugreifen (Photos dieser Situationen befinden sich am Ende meines Artikels "The Politics of the Past" vom November 2014). Oder, wie es der kurdische Aktivist Cahit Storm damals in seinem schwarzen Humor treffend – und in zukünftigen Belangen leider fast schon prophetisch – auf seinem Twitter-Account ausdrückte:

Lot of questions about the turkish army: they take a sunbath since 3 weeks and drink mojitos.
And twice a day they attack us. #‎Kobane

Die türkische AKP-Regierung Erdoğans, die seit letztem Sommer 2015 keine Kosten, Mühen und Brutalitäten scheut, ihre eigene kurdische Bevölkerung mit erbarmungsloser militärischer und polizeilicher Gewalt niederzuschlagen, erklärte den Fall von Kobanê in die Hände der Dschihadisten damals lapidar für unausweichlich.

Ergebnis:

Es gelang den zu diesem Zeitpunkt äußerst schlecht ausgerüsteten Kurd*innen die Stadt unter großen Opfern zu verteidigen. Am 26. Januar 2015 wurde die Stadt komplett von Daesh befreit (siehe meinen Post: "Befreiung & Wiederaufbau der Stadt Kobanê"). Dieser Sieg wurde zum Beginn der größten Befreiungswelle, die der syrische Bürgerkrieg erlebt hat und hält bis zum heutigen Tage an. Das von der Türkei auf vielfältige Weise unterstützte dschihadistische Terror-Kalifat von Daesh schrumpft seither täglich in sich zusammen.

Für Obamas USA (und damit indirekt auch die NATO, deren Mitglied die Türkei ist), die sich damals nach einigem Zögern, dafür umso nachhaltiger auf die Seite der syrischen Kurd*innen geschlagen haben, war die Schlacht um Kobanê der Beginn eines fruchtbaren Bündnisses mit den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG bzw. YPJ, die mittlerweile als multi-ethnisches und säkulares Bündnis zur SDF (Syrian Democratic Forces) ausgebaut wurden und damit – übrigens auf politisch-basisdemokratisch-säkularen Ideen der PKK beruhend – auch einen Nährboden für ein friedliches Zusammenleben zwischen Ethnien und Religionsgruppen in einem Nachkriegs-Syrien bilden.

Siehe auch meine Blog-Posts:
The Politics of the Future (deutsche Version) (Jan. 2015) Hintergrundartikel zum kurdischen Kampf um Befreiung


Aktive Blockade der NATO & der USA

Erdoğan schiebt sein dschihadistisches Trojanisches Pferd in die NATO
Karikatur von Y Silo - 17 Juni 2015
STOP #TerröristERDOGAN

Da Erdoğan die Strategie der Syrienpolitik der USA und EU (Zerschlagung des IS, Bündnis mit den Kurd*innen) nicht teilt, versucht er, sie zu blockieren, etwa in dem er den für ein NATO-Mitglied höchst ungewöhnlichen Schritt unternahm, ausgerechnet dem führenden NATO-Partner USA plötzlich die Benutzung eines etablierten türkischen NATO-Luftwaffenstützpunktes zu verweigern.

Ergebnis:

Seit dem 23. Juli 2015 benutzt die US Air Force den türkischen NATO-Flughafen İncirlik nun doch für ihre – im engen Verbund mit den von Erdoğan als 'Terroristen' bezeichneten syrisch-kurdischen YPG/YPJ-Einheiten koordinierten – Angriffe auf die IS-Terroristen (Daesh) in Syrien.

Und die syrisch-kurdische YPG/YPJ ist – das sollte im Sinne der Wahrheitsfindung und des politischen Fortschritts durchaus offensiv betont werden – immerhin die Schwesterorganisation der türkisch-kurdischen PKK. Beide haben gemeinsam mit den USA die Stadt Kobanê vor dem Fall in die Hände des blutigen Kalifats bewahrt und insbesondere die PKK hat sich als global einzige entschlossen intervenierende Kraft im Spätsommer 2014 um die Verhinderung des stattfindenden IS-Völkermordes an der Minderheit der Jesid*innen im nordirakischen Shingal-Gebirge für immer und ewig verdient gemacht.

Der entsetzliche 'Kollateralschaden':

Als 'Dank' für die eigentlich selbstverständliche Fluggenehmigung schweigen USA und NATO zu den seither stattfindenden militärischen Angriffen der Türkei auf die PKK im Nordirak, die zudem einen schweren Bruch des Völkerrechts darstellen. Allerdings führt die NATO (wie auch die EU, Deutschland und die USA) die PKK leider und fatalerweise selbst immer noch auf ihren 'Terrorlisten', was eine Kritik daran von dieser Seite ohnehin schwierig macht. Deshalb muss zuallererst das PKK-Verbot weg (auch diese Forderung wird in diesem Blog schon seit 2014 dauerhaft erhoben)! Einer 'Zerschlagung' der PKK ist Erdoğan damit trotz schrecklicher, auch ziviler Opfer im Irak allerdings keinen Schritt näher gekommen und die PKK ist – gänzlich unabhängig davon, was jemand von ihr hält – mit militärischen Mittel auch nicht zu zerschlagen, was auch Erdoğan – nach mehr als 20 Jahren erfolglosem Krieg zwischen der Türkei und der PKK – eigentlich wissen müsste.

Um die Friedensverhandlungen mit Erdoğan voranzubringen, hat sich die PKK als vertrauensbildende Maßnahme schon im Frühjahr 2013 aus der Türkei in das Kandil-Gebirge im Nordirak zurückgezogen.
Hier sehen wir Kämpfer*innen der Frauenguerilla YJA STAR (Einheit der freien Frau) [Archivbild].
Obwohl sich die PKK – im Unterschied zu Erdoğan – an die Verabredungen im damaligen Friedensprozess gehalten hat, wird sie seit Juli 2015 sogar im Irak militärisch von der Türkei angegriffen, genauer: bombardiert. Zerschlagen kann Erdogan sie damit nicht: trotz unendlichem Leid auch für zahlreiche Zivilist*innen in den von der Türkei bombardierten irakisch-kurdischen Gebieten und viel zu vielen 'Märtyrern' ist die PKK quasi 'unsterblich' ein bißchen wie 'Popstars' (siehe unten).
Oder wie es auf einem kurdischen Twitter-Account heißt:

"They tried to bury* us. They didn't know we were seeds."
(Sie versuchten uns zu begraben*. Sie wussten nicht, dass wir Samen sind.)

* Anmerkung zur Übersetzung: bury bedeutet sowohl begraben als auch vergraben als auch verscharren.
Im Kontext des Umgangs der Türkei mit der PKK macht alles Sinn. Ich habe mich für begraben entschieden,
auch wenn es im Kontext der Samen-Analogie im Deutschen etwas sperrig ist.

Die USA gehen auf Abstand zur Türkei:

Bei aller möglichen Kritik an der Politik der USA: die USA sind kein 'Bananenstaat', auf dessen Nase ein Herr Erdoğan herumtanzen kann, wie ihm der 'Schnabel' gewachsen ist. Das Verhältnis ist schon lange deutlich unterkühlt, Obama hat ihn bei seinem letzten US-Besuch noch nicht einmal mehr offiziell empfangen. Ein langjähriger Berater der US-Regierungen von Clinton (!), Bush (!) und Obama (!), David L. Phillips*, wurde schon am 6. Januar 2016 noch deutlicher, als er seinen Artikel mit dem programmatischen Titel “Losing Turkey” mit den scharfen Worten beendete:

“Under Erdogan's hegemonic rule, Turkey no longer holds Western values nor does it serve US interests.
The Obama administration must review and modify its approach to Turkey.
Washington's deplorable silence makes it complicit in Erdogan's crimes.”

* Mr. Phillips is Director of the Program on Peace-building and Rights. He is a former Senior Adviser to the Obama administration. He also served as a Senior Adviser and Foreign Affairs Expert to the State Department during the Clinton and Bush administrations. (www.huffingtonpost.com/david-l-phillips/losing-turkey_b_8922912.html)

In US-amerikanischen Medien* wird mittlerweile breit über die Frage diskutiert, ob die Türkei aus der NATO ausgeschlossen werden soll, was ein in deren Geschichte bisher einmaliger Fall wäre. Ich möchte mir diese Forderung allerdings nicht zu eigen machen, da ich die NATO als solche für ein nicht reformfähiges und dringend aufzulösendes imperialistisch-militaristisches Machtbündnis halte, in das so betrachtet Erdoğans Türkei durchaus gut passt. Aber auch diese Diskussion zeigt, wie sehr Erdoğan die Türkei in die internationale Isolation manovriert hat.

* Zur Diskussion in den USA siehe etwa hier:
on the New York Times' question "Does Turkey Still Belong in NATO?"
(J. Schanzer is a former terrorism finance analyst at the U.S. Department of the Treasury,
now vice president for research at the Foundation for Defense of Democracies)

Siehe auch meine Blog-Posts:


Einspannen der Bundeswehr

Diese und ähnliche Tweets schickte ich nach dem schrecklichen Massaker an einer studentischen türkischen Kobanê-Solidaritätsbrigade mit 34 Toten im türkischen Suruç (darauf referiert auch mein damaliger Avatar) am 20. Juli 2015 massenhaft über den STYLE! IT! TAKES! Twitter-Account 'Magenta Netzwerk' u. a.
an autonome, linke, antifaschistische, friedensbewegte und kurdische Gruppen & Initiativen, internationale Menschenrechtsorganisationen, kleine und große, nationale und internationale Tageszeitungen und Online-Medien wie auch an Parteien, ihre Jugendorganisationen und nicht zuletzt ausgewählte Bundestagsabgeordnete. Hier ein Screenshot vom frühen Morgen des 22. Juli 2015 mit einigen in der Sache als wohlwollend eingeschätzten Abgeordneten der Grünen und der Linkspartei.
Screenshot by me

Es war einmal... die Stationierung von Bundeswehr-Einheiten mit ihren Patriot-Abwehrraketen zum 'Schutze der Türkei' vor etwaigen Angriffen aus Syrien. Nachdem im Sommer 2015 auch in Deutschland die berechtigte Sorge um sich griff, die Bundeswehr könnte indirekt eher Teil von türkischen Angriffen auf Syrien werden – oder gar in die schmutzigen Angriffe der türkischen Armee auf den kurdischen Teil der Bevölkerung der Türkei, Syriens und nicht zuletzt auf 'die PKK' im Nordirak verwickelt werden – und lauter werdenden Stimmen vor allem von Grünen und Linken für einen Abzug der deutschen Soldaten und Waffen (übrigens auch schon sehr früh (ab 2014) in diesem Blog) wurde der Einsatz zum Unmut der Türkei erfreulicherweise nach überraschend kurzer und einhelliger Diskussion beendet, zumal sich in diesem Punkt ausnahmsweise Abgeordnete von Opposition und Regierung, Menschenrechtler*innen, Friedensaktivist*innen und führende Stimmen der Bundeswehr einig wurden. Auch die eben geschilderten Bombardierungen der Türkei auf die PKK spielten in der Debatte und den Argumentationen eine große Rolle. Sogar 'Kriegsministerin' Ursula von der Leyen (CDU) kritisierte Erdoğans Eskalation gegen die PKK damals überraschend und erfreulich scharf.

Ergebnis:

Am 15. August 2015 beschloss der Deutsche Bundestag den Abzug der Bundeswehr zum Auslaufen des Mandats im Rahmen der NATO-Mission "Active Fence Turkey" (besonders aus jetziger Sicht: was für ein Name!) bis Ende Januar 2016. Die Bundeswehr selbst hatte es dann sogar deutlich eiliger und zog ihre Abwehrraketen und Soldaten bereits im Herbst 2015 vorzeitig aus der Türkei ab. Mittlerweile ist die Bundeswehr zwar schon wieder zurückgekehrt, allerdings nicht 'zum Schutze der Türkei', jetzt fliegen Bundeswehr-Tornados vom türkischen NATO-Flughafen İncirlik 'Aufklärungsflüge' gegen den IS in Syrien.

Siehe zum Beispiel:
bundeswehr-journal: Abzug der deutschen Patriot-Systeme aus der Türkei (16. August 2015)

Blog-Posts zum Themenfeld:
Das Letzte Massaker der Dschihadisten (Juni 2015)
K(l)eine Lehren aus Paris (Nov 2015)
#TurkeysWarOnKurds (Januar 2016)


Isolierung & Zerschlagung der PKK, YPG/YPJ und PYD

Bekanntlich steht für Erdoğan der Hauptfeind nicht nur im eigenen Land, sondern auch im benachbarten Syrien. Und der heißt eben weder IS noch Assad, sondern ist in beiden Fällen kurdischer Herkunft. Unermüdlich betont er, dass die Arbeiterpartei Kurdistans PKK schlimmere "Terroristen" als die IS-Mörderbanden seien und "Meter um Meter" (Zitat aus seiner Neujahrsansprache 2016) vernichtet und "gesäubert" (ebenda) werden müssten. Gleiches gilt natürlich für die syrischen Schwesterorganisationen: die Volksverteidigungseinheiten YPG, die Frauenverteidigungseinheiten YPJ und den politischen Arm all dessen, die syrische Partei PYD. Erdoğan und andere Vertreter*innen seiner AKP haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie eine Herrschaft des IS im Zweifelsfalle jederzeit den genannten, demokratisch ausgerichteten Organisationen vorziehen würden. So äußerte der damals zweite Mann hinter Erdoğan, der bis vor kurzem noch türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu im August 2014, also zu einem Zeitpunkt, als die IS-Terroristen (Daesh) schon weite Teile des Irak und Syriens überrannt und dort ihr mörderisches Kalifat errichtet hatten:

Ahmet Davutoğlu, Erdoğans AKP-Parteikollege und Verhandlungspartner von #Merkel über einen EU-Beitritt der Türkei, am 8. August 2014 über den IS (Daesh):
"Der IS ist keine terroristische Organisation. Es ist nur eine Gruppe von Leuten, die sich aufgrund von Unmut und Wut zusammen gefunden haben."

Aber, so wird das nichts, Herr Erdoğan:

Spätestens seit ihrem entschlossenen Kampf gegen die dschihadistischen Mörderbanden des IS sind die PKK und ihre syrischen Schwesterorganisationen YPG & YPJ, ihre Logos und Ideen währenddessen global zu einer Art 'Popstars' aufgestiegen (siehe die kleine Photostrecke unten). Auch das in vielen (nicht allen) Ländern geltende PKK-Verbot nimmt kein denkender Mensch mehr ernst (was nicht heißen soll, dass es keine Repression deshalb gibt, leider ist auch in Deutschland das Gegenteil der Fall). Selbst das 'coole' Vice-Magazin und die wenig coole Bild-Zeitung trafen sich schon für recht wohlwollende Interviews mit der von Erdoğans Schergen verzweifelt gesuchten (!) PKK-Führung im nordirakischen Kandil-Gebirge; inklusive Tee, Tanz und Photoshooting. Zuletzt kochte Erdoğan vor Wut, nachdem bekannt wurde, dass US-amerikanische Elitesoldaten jetzt stolz die beliebten Aufnäher der YPG und YPJ auf ihren Uniformen tragen (siehe Photo unten). Die Kurd*innen haben die Menschlichkeit und die Menschheit vor der Barbarei des Kalifats gerettet (der IS wollte ja eigentlich mit seinen Mörderbanden bis nach Rom und Jerusalem weiterziehen) – und jetzt dankt die Welt es ihnen. Rom ist jetzt Partnerstadt von Kobanê, der in türkischer Isolationshaft befindliche* PKK-Mitbegründer Abdullah Öcalan Ehrenbürger von Neapel. Von Moskau bis nach Paris wurden inzwischen Botschaften und Vertretungen von Rojava (Westkurdistan / Nordsyrien) eröffnet. Gewöhnen sie sich daran, ewig giftender Sultan, auch diesen Kampf um die Herzen der globalisierten, freiheitlich gesinnten Welt haben sie längst verloren.

* So absurd und seltsam es klingt: ich hoffe jedenfalls, dass Öcalan (der natürlich sofort freigelassen gehört, auch um den Friedensprozess in der Türkei wieder in Gang zu bringen) sich noch 'in türkischer Isolationshaft' befindet. Es gibt nämlich seit April 2015 überhaupt kein Lebenszeichen mehr von ihm, da mittlerweile niemand mehr (auch keine Politiker*innen, Anwält*innen oder Familienangehörige) Zugang zu dem Gefängnis hat. Und der Türkei unter Erdogan ist bekanntlich alles zuzutrauen!

Siehe auch meine Blog-Posts:
The Politics of the Future (deutsche Version) (Jan. 2015) Hintergrundartikel zum kurdischen Kampf um Befreiung
Befreiung & Wiederaufbau der Stadt Kobanê (Febr. 2015)
#TurkeysWarOnKurds (Januar 2016)
Global resistance against Turkey's state terror (März 2016)

'Popstars' im Kampf um Befreiung

Es ist viel über die Propaganda-Maschine des IS berichtet worden. Aber nicht deren abscheuliche Terrorvideos haben die Herzen der Menschen erobert, sondern die Kurd*innen. Und das, obwohl (oder weil) die Öffentlichkeitsarbeit der kurdischen Organisationen meist eher sachlich und nüchtern gehalten ist. Aber sie haben eben global ihre 'Fans'. Mit schönen Grüßen an Erdoğan: Ein paar Erinnerungen aus dem Netz...

#WeAreAllPKK

  


Ein 'Selfie' in Paris mit der auch in Frankreich offiziell verbotenen PKK
9. Januar 2016, via #TwitterKurds
Eine hübsche blaue Jubeltorte am Tag der Befreiung von Kobanê,
serviert auf einer PKK-Fahne (!) in Norwegen
26. Januar 2015, via #TwitterKurds
Urlaubsgrüße von den Kanarischen Inseln an einen Freund in Kobanê
Sommer 2015, via #TwitterKurds

#Sisters #YPJ & #YPG


Unzählige Reportagen und Tweets über die
"'Badass' pink-socked warrior girls" der YPJ
via #TwitterKurds

Kurdisch-amerikanische Freundschaft

Erdoğan muss kurz vor dem Herzinfarkt gestanden haben, als diese Bilder um die Welt gingen:
U.S. Soldaten in Rojava im Frühjahr 2016 mit den beliebten Aufnähern der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ (grün, Photo links, daneben ein Soldat mit US-Flagge als Aufnäher)
& der Volksverteidigungseinheiten YPG (gelb, Photo rechts)
Photos via @jenanmoussa; zur Collage beschnitten: STYLE! IT! TAKES! Blog Berlin


Mein Freund Putin

Während weder Obama noch NATO oder Bundeswehr letztlich so wollten wie Erdoğan, blieb ihm eine Zeit lang immerhin noch das mächtige Russland. Und für lange Zeit schienen sie wie füreinander geschaffen: zwei Despoten und restlos korrupte Diktatoren an den beiden Enden Europas und der EU, ein reales (Russland) und ein imaginäres (Türkei) 'Weltreich', ein realer (Russland) und ein potentieller (Türkei) geopolitischer Machtblock, zwei zutiefst patriarchale und machistische, religiös verbrämte Männerfreunde – Erdoğan und sein Freund Putin. Aber auch das wurde nichts: nicht nur, dass sich ihre Interessen in Syrien diametral entgegen stehen (Russland stützt Assad, Erdogan will ihn stürzen), nein, Russland toleriert auch noch, zumindest indirekt, den erfolgreichen kurdischen Kampf gegen die islamistischen Dschihadisten. Als dann Erdoğans bekannt 'schießfreudiges' Militär am 24. November 2015 auch noch einen russischen Kampfjet abschoss, war es endgültig aus mit der scheinbar so vielversprechenden Freundschaft. Putin 'machte Schluss' mit seinem Freund Erdoğan. Und wie wir alle wissen, macht Putin selten halbe Sachen: Tourismusboykott (ein zentraler und finanzkräftiger Teil der Türkei-Tourist*innen kam aus Russland), Handelsboykott und Einfuhrverbot türkischer Waren (es kam z. B. viel Obst aus der Türkei) – und quasi als 'Sahnehäubchen' (oder Haubitze) – höchst detaillierte, öffentliche und internationale Offenlegung der tiefgreifenden Unterstützung, die Erdoğan und seine AKP den IS-Terroristen gewährt. Freilich ein gefundenes Fressen für den schon lange selbst in der Kritik stehenden und keinen Deut besseren russischen Diktatorenkollegen. Wir können uns also bei aller Schadenfreude den Applaus sparen und sollten nicht vergessen, dass Putin und Erdoğan vor ihrem Zerwürfnis für lange Zeit gemeinsame Sache gemacht haben. Aber besser spät als nie:

Anfang Dezember 2015 - Russland lüftet das dünne 'Deckelchen':
Was 'unter Erdoğan' ans Tageslicht tritt, war allerdings für informierte Zeitgenoss*innen
schon länger kein Geheimnis mehr.
Interessant waren allerdings die Details und fundierten Belege der Russen.
Russia exposes the real face of #TerroristErdogan & #TerroristTurkey: #daeshbags
Cartoon / Karikatur von ca. Anfang Dez 2015

Ergebnis:

Ein Totalfiasko für Erdoğan. Die (auch vorher schon bekannten) Verbindungen zwischen der AKP-Regierung und den IS-Terroristen sind damit auf internationalem Parkett gelandet, inklusive von Beweismaterialien, die auch für kritische Journalist*innen normalerweise unzugänglich sind, etwa russische Satellitenbilder der Öltransportrouten zwischen dem IS-Kalifat und der Türkei. Die Komplizenschaft zwischen Erdoğans Türkei und den IS-Dschihadisten bestreitet spätestens seit dem niemand mehr ernsthaft, dafür sind die vorgelegten russischen (und übrigens auch andere, von Journalist*innen und Aktivist*innen zusammengetragenen und dokumentierten) Beweise zu erdrückend.

Die Tourismusbranche der Türkei befindet sich mittlerweile auf einem historischen Tiefpunkt (wer will überhaupt noch in diesem Land zwischen täglich laufenden staatlichen Massakern, blutigen Terroranschlägen und Ermordungen, inmitten gewaltätig niedergeschlagener Proteste 'Urlaub' machen?), die Wirtschaft ist in einer dauerhaften, sich verschärfenden Krise. Bei jedem fragwürdigen politischen Ereignis in der Türkei wackeln und zittern die dortigen Börsen- und Aktienmärkte.

Mehmet Donen, a former minister of industry and commerce, told Al-Monitor about
“Meanwhile, major companies producing industrial goods are leaving Turkey. There are three reasons: They don’t trust the legal system in Turkey. The second is polarization and growing tensions in the country. The third is terror. Not only foreigners but also local major companies are also leaving the country.”

Globaler Tourismus- & Warenboykott:
#Boycott #Terrorist #Turkey
#TourismBoykott #NoHolidayInTurkey
Stop #TurkeysWarOnKurds
Bitte achtet vor allem bei Textilien von Großhandelsketten (H&M & Co.) auf die Schildchen:
in deren türkischen Textilklitschen werden mittlerweile sogar syrische Flüchtlingskinder ausgebeutet.
Ein touristischer Urlaub unter Erdoğan ist sowieso ein absolutes No-Go!


Die Pufferzone

Nachdem Erdoğan im Frühsommer 2015 auch die kurdisch-allierte Befreiung von Tall Abyad (dem ehemals zentralen Umschlagplatz für Waffen, Sprengstoffe, Kämpfer und Ölhandel zwischen dem Kalifat und der Türkei) trotz der üblichen Drohungen nicht verhindern konnte und absehbar wurde, dass irgendwann auch das verbleibende Gebiet zwischen den Kantonen Kobanê und Efrîn (beide Teil der selbstverwalteten kurdischen Region Rojava) den Klauen des IS entrissen würde, entwickelte er einen neuen perfiden Plan: die Errichtung einer angeblichen 'Pufferzone' zwischen den nordsyrischen Städten Azaz und Jarabulus, die wahlweise von mit der Türkei verbündeten 'Rebellen' oder direkt von der Türkei kontrolliert werden solle.

Nicht zufällig befindet sich dieses anvisierte Gebiet genau zwischen den bereits befreiten Teilen der Kantone Efrîn und Kobanê und sollte – von Erdoğan freilich als 'humanitäre Maßnahme' verklausuliert – einen türkischen 'Puffer' zwischen beiden errichten. Damit sollte verhindert werden, dass die kurdischen Kräfte im bewährten Bündnis mit den USA diese bis heute von Daesh gehaltene Region befreien können, ohne direkt mit der Türkei in Konflikt zu geraten - und so ist es auch gedacht. Schon seit Ende Mai / Juni 2015 sammelte sich türkisches Militär an der Grenze zu Rojava, mauerte (zu Zeiten des benachbarten IS-Kalifats sperrangelweit offene) Grenzübergänge zu, hub Gräben aus und errichtete schließlich eine Mauer. Die aus Tall Abyad in die Türkei flüchtenden IS-Dschihadisten wurden damals stattdessen breit grinsend auf der türkischen Seite empfangen und konnten dort sogar einen Treffpunkt (!) einrichten - und von dort aus kurz darauf ein erneutes Massaker in Kobanê verüben. Gleichzeitig gab es seit Ende Juni 2015 immer neue Drohungen aus der Türkei in Richtung Rojava. Immer wieder betonte Erdoğan, die Stadt Jarabulus auf der anderen Seite des Euphrat sei für ihn "die rote Linie", dann würde er Rojava angreifen (was er – obwohl die Kurd*innen und die USA aufgrund dieser Drohungen von der nicht nur geographisch, sondern auch unter politischen und militärischen Gesichtspunkten naheliegenden Befreiung dieser Stadt bis zum heutigen Tage abgesehen haben – ohnehin bereits fortlaufend tut).

12. Juli 2015:
Die Türkei beginnt mit dem Bau eines (Schützen-)Grabens an der Grenze
zwischen Nusaybin (kurdische Stadt in der Türkei) und
Qamishlo (Stadt im kurdischen Kanton Cizîrê in Rojava, Nordsyrien)
ANF, via Kurdish Question.com

15. Dezember 2015:
Türkische Soldaten bauen eine Mauer mit Wachtürmen
an der Grenze zum kurdischen Efrîn Kanton (Rojava, Nordsyrien)
via @anfenglish

17. Februar 2016:
Die Türkische Armee zieht an der Grenze zum Kanton Kobanê auf und bringt ihre Panzer in Stellung
#Turkish army is sending mass troops and reinforcement to its border with #Kobane, #Rojava (ANHA)
via @avjin737

Verschärfend hinzu kommt, dass die von Erdoğan angedachten, verbündeten 'Rebellen' für seine anti-kurdische 'Pufferzone' aus zutiefst menschenverachtenden, dschihadistischen Gruppierungen wie der Al-Nusra-Front oder Ahrar-al-Sham bestehen, die dem Terror von Daesh in nichts nachstehen. Letztere wurden übrigens 'freundlicherweise' von unserem beliebten sozialdemokratischen Außenminister Steinmeier – ganz im Gegensatz zu den explizit ausgeladenen kurdischen Vertreter*innen – zu den syrischen 'Friedensgesprächen' in Genf eingeladen.

via #TwitterKurds

Der damalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu (AKP) äußerte zwei Tage nach den ersten türkischen Angriffen auf das selbstverwaltete Rojava vom 24. Oktober 2015,

„die Türkei wird das Schicksal ihrer 911 Kilometer langen Grenze [zu Syrien] keinem Land überlassen.
Das haben wir sowohl Russland als auch den USA mitgeteilt. Wir haben ihnen gesagt, sollte die PYD (Partei der Demokratischen Einheit) sich dem Westen des Euphrats nähern, werden wir sie angreifen. Und das haben wir auch gemacht."
(zitiert nach: Civaka Azad e. V.: TürkischesMilitär attackiert Rojava)

Es ist beinahe absurd: das NATO-Land Türkei blockiert die erfolgreichen Befreiungsaktionen des Bündnisses zwischen den Kurd*innen und dem NATO-'Partner' USA im 'Krieg gegen den Terror' und sorgt auch noch dafür, dass einer der wichtigsten Akteure (und der einzige relevante säkulare und demokratische), die kurdisch-multiethnische PYD (die zur YPG & YPJ gehörende Partei in Rojava), nicht zu den Friedensgesprächen in Genf eingeladen wird. Selten haben sich die USA, die EU und Deutschland so von einem Land an der Nase herumführen lassen wie von Erdoğans Türkei. Dennoch ging Erdoğans Plan nicht auf.

Ergebnis:

Obwohl Erdoğan bei jeder passenden und meist auch bei jeder unpassenden Gelegenheit den mittlerweile vergammelten Hut seiner 'Pufferzone' aufwärmt, gibt es sie bis heute nicht, sie wird immer kleiner (gemessen an den territorialen Gewinnen der kurdischen Allianz) und die von Erdoğan unterstützten 'Rebellen' mussten sich mittlerweile fast komplett aus der Region zurückziehen. Stattdessen regiert dort, wo nicht die Kurd*innen und ihre vielfältigen Verbündeten sind, weiter das mörderische Kalifat von Daesh. Erdoğans 'Pufferzone' ist also einer der syrischen 'Reste' von 'Daeshistan'. Das mag ihm nicht ungelegen kommen, aber damit hat es keine Zukunft, denn die Zerschlagung von Daesh ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Selbst wenn die Türkei nach 5 Jahren Syrienkrieg und zusätzlich zu ihrem selbst geschaffenen Bürgerkrieg im eigenen Land direkt einrücken würde, würden sie damit interessenwidrig notwendigerweise Daesh verdrängen – denn so dummdreist, offen mit Daesh gemeinsam gegen die Kurd*innen vorzugehen, ist noch nicht einmal Erdoğan. Außerdem würde er damit den Konflikt sowohl mit als auch zwischen den USA und Russland weiter eskalieren – und das will nun wirklich kein Mensch auf der Welt (der Letzte, der dies versucht hat, hat sich bekanntlich am 30. April 1945 in einem Berliner Bunker erschossen...).

Erdoğans 'Pufferzone' realistisch betrachtet: nicht zufällig liegt sie genau auf dem letzten vom IS / Daesh (grau gefärbte Gebiete) gehaltenen Grenzstreifen (genau dort, wo links die schwarzen Pfeile sind, die den regen Grenzverkehr zwischen dem IS-Kalifat in Syrien und der nördlich angrenzenden Türkei markieren) (Abbildung links).

Die Türkei blockiert damit die naheliegende Lösung des 'Kriegs gegen den IS-Terror', nämlich den Kurd*innen und ihren Allierten (gelb gefärbte Gebiete = die bereits befreiten Teile von Rojava) endlich zu erlauben, die Kantone Efrîn (links oben) und Kobanê (Mitte oben) zu verbinden und damit den Transfer zwischen dem Kalifat und der Türkei endgültig zu kappen (Abbildung rechts).
Früher oder später wird (hoffentlich!) auch genau das passieren.

Das benutzte Kartenmaterial ist übrigens vollkommen veraltet (Sommer 2015), das Kalifat ist inzwischen entschieden kleiner und die Kurd*innen haben es vor allem auf der östlichen Seite
im Cizîrê-Kanton extrem zum Schrumpfen gebracht. :-)
Graphik via #TwitterKurds

Ich halte es auch nur noch für eine Frage der Zeit, bis auch bezüglich der Beteiligung der Kurd*innen an den – derzeit aufgrund fundamentaler politischer Fehler brach liegenden – Genfer Friedensgesprächen niemand mehr auf Erdogan hören wird und endlich auch die kurdischen Vertreter*innen beteiligt werden.

Update 7. Juni 2016: Nur wenige Tage nachdem ich dies niedergeschrieben habe, wird meine Einschätzung schon bestätigt:
"SYRIA: PYD confirms that Kurds have gotten an invite to the next round of #Syria peace talks from UN envoy Mistura" (via Conflict News @conflicts). :-)


Die rote Linie

Die "rote Linie" ist eigentlich ein offenkundig verschiebbarer Punkt, an dem Erdoğan schon im Vorfeld öffentlich erklärt, später 'auszurasten'. Erst war es die Befreiung von Tall Abyad am 15. Juni 2015, die um jeden Preis verhindert werden sollte. Die Daesh-Dschihadisten haben sich mit Hilfe der Türkei in der entsetzlichsten denkbaren Form, mit dem über die türkische Grenze hinweg eingefädelten Massaker in Kobanê am 25. Juni 2015, bei dem über 230 Menschen sterben mussten (darunter viele Alte, Kinder und Babies) und noch viel mehr schwer verletzt wurden, dafür 'gerächt'. Doch Tall Abyad ist genauso wie Kobanê bis heute von Daesh befreit, dazu die komplette Umgebung. Nachdem die Kurd*innen das Ostufer des Euphrat befreit hatten, wurde, wie erwähnt, die "rote Linie" der türkischen Regierung auf die westliche Seite des Euphrat verlegt. Diese Leitlinie gilt offiziell bis heute, ist aber de facto längst ebenfalls Makulatur, da die Kurd*innen und die SDF schon Ende Dezember 2015 mit der Rückeroberung des strategisch extrem bedeutsamen Staudammes Tishrin Dam (der letzten direkten Verkehrsverbindung zwischen der IS-Hauptstadt Rakka und der Türkei) und der darauf folgenden Befreiung der umliegenden Region den Euphrat längst überschritten haben.

Ergebnis:

Hier die ganz aktuelle Situation in Nordwestsyrien (Stand: 4. Juni 2016)
Legende zu den eingefärbten Städten & Dörfern:
Gelb = befreite Gebiete des selbstverwalteten Rojava (Kurden & Allierte: YPG / YPJ / SDF)
Schwarz = die Reste des IS-Kalifats (Daesh)
Rot = Assad-Regime / Syrische Armee
Grün = Anti-Assad-Rebellen (u. a. FSA, Ahrar-al-Sham und zahlreiche andere islamistische Gruppen)
BlauAl-Nusra-Front (nur in der Idlib-Provinz links unten stark)
Zusätzlich habe ich das ungefähr von Erdoğan anvisierte Gebiet seiner 'Pufferzone' markiert (blaue Line), rechts ist es "die rote Linie" am Westufer des Euphrat.

Wir können sowohl erkennen, dass sich die US-unterstützte, kurdisch-multi-ethnische Allianz schon längst innerhalb der 'Pufferzone' befindet (das westlich vom Euphrat gelegene, gelb gepunktete 'Dreieck' zwischen Manbij, Sarrin und dem Tishrin-Staudamm), als auch, dass die von Erdoğan unterstützten 'Rebellen' (grün) in dieser Region praktisch komplett vom IS verdrängt sind und kaum noch Einfluss in dem Gebiet haben. Das war mal anders, aber anstatt gemeinsam mit den Kurd*innen gegen den IS zu kämpfen, haben sie lieber – mit Unterstützung der Türkei 'rückwärts' die Kurden im Efrîn-Kanton und in Aleppo beschossen. Als Daesh in den letzten Wochen eine Westoffensive gestartet hat, scheint ihnen die 'Munition' ausgegangen zu sein...

Die kurdische Allianz SDF hat also nicht nur den Euphrat überschritten, sondern befindet sich aktuell auf dem Weg nach Manbij (auf der Karte die große Stadt rechts von meinem blauen Fragezeichen) wie auch in nördlicher Richtung westlich des Euphrat hoch nach Jarabulus (die direkt am Euphrat gelegene Grenzstadt zur Türkei). Daran haben sie auch die wiederholten, völkerrechtswidrigen, brutalen und tragischen Angriffe des türkischen Militärs (Beschuss über die Grenze hinweg) und der von der Türkei und Saudi-Arabien ausgestatteten syrischen Vasallen, die beide übrigens meistens Zivilist*innen treffen, verletzen und töten, nicht hindern können.


Die sunnitische Achse

Sunnitisch-islamistische Feinde & Freunde des Westens:
links der Erzfeind Daesh (IS), rechts das verbündete Saudi-Arabien
(übrigens ein beliebtes Rüstungsexportland von Deutschland)
Erdoğan ist stringenter: ihm sind beide Recht.

Erdogan ist bekanntlich ein Mann mit 'Visionen'. Neben der Etablierung eines neuen 'Osmanischen Reiches' gehört dazu auch die Wunsch- und Wahnvorstellung einer gemeinsamen, sunnitisch-islam(ist)isch geprägten politisch-religiösen Achse von 'Istanbul bis Mekka' im Verbund mit Henkers- und Folterstaaten wie Saudi-Arabien. Im 'Idealfall' soll diese Achse ungefähr von der Türkei über Syrien zur Hamas in Palästina bis nach Saudi-Arabien und Ägypten in Afrika reichen. Also muss erst einmal die islamische Axt im Nachbarland Syrien angelegt werden, um die anvisierte Großregion zu verbinden. Die Mittel dazu sind Erdoğan und seiner AKP eigentlich recht egal, die sunnitisch-dschihadistischen Terroristen vom IS (Daesh) sind genauso recht wie andere, von viel zu vielen auch im Westen immer noch irreführender- und verharmlosenderweise als 'Rebellen' bezeichnete islamistische, meist auch von Saudi-Arabien unterstützte Terrorgruppen wie der syrische Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front und ähnliche Gruppierungen. Nur, 'dummerweise' verlieren wie geschildert all diese Mörderbanden jeden Tag mehr an Einfluss in Syrien, auch wenn (oder auch weil) sie noch so viele Menschen köpfen, erschießen, vergewaltigen, entführen oder foltern.

Ergebnis:

Sämtliche von Erdoğan und / oder Saudi-Arabien unterstützten sunnitischen 'Rebellengruppen' befinden sich in einer umfassenden Krise, haben ihren Einfluss im Norden des Gouvernements Aleppo praktisch komplett (entweder an Daesh oder an die Kurd*innen / SDF) verloren und mussten anderswo immer weitere Gebiete an die Syrische Armee von Assad abtreten.
Dabei hatte sich Erdoğan das alles mal so schön vorgestellt:

Collage berühmt gewordener Erdoğan-Zitate
von @JPY_Kurdish (das kleine grüne Logo) #TwitterKurds


Erdoğans Muslimbrüder in Ägypten

Schon im Zuge des so genannten 'Arabischen Frühlings' (der mit der Revolution in Tunesien 2011 begann, gefolgt von den Aufständen in Ägypten, Libyen, Syrien und zahlreichen weiteren Ländern) streckte Erdoğan seine Fühler hoffnungsvoll in Richtung der einflussreichen ägyptischen 'Muslimbruderschaft' aus. Als diese im Zuge der Revolutionswirren für kurze Zeit in Ägypten an die Macht kam, war Erdoğan einer der Ersten, der dem im Juni 2012 frisch gewählten Präsidenten der islamistischen Muslimbruderschaft Mohammed Mursi gratulierte. Dumm für Erdoğan war nur, dass bereits im Sommer 2013 bei den vielleicht größten Demonstrationen der Menschheitsgeschichte (!) Millionen von Ägypter*innen gegen Mursi, die von ihm betriebene Islamisierung des Landes und seinen autoritären Führungsstil aufgestanden sind und damit die korrupte, kurze Herrschaft unter diesem rasch vollkommen verhassten Präsidenten Mursi de facto* schon wieder beendeten. Tragischerweise nutzte das ägyptische Militär die erneute revolutionäre Situation für einen Putsch und setzte sich selbst – wie schon in den Dekaden zuvor unter Dauerdiktator Mubarak – unter Führung von General al-Sisi wieder an die Spitze des Landes (falls mensch überhaupt davon ausgeht, dass es jemals einen Zeitpunkt im modernen Ägypten gab, an dem das Militär nicht de facto an der Macht war).

* Es wird gerne vergessen, wie weit die Anti-Mursi-Revolution schon gekommen war, bevor das Militär gegen Mursi und die Revolution putschte: 15 Millionen von der Tamarod-Bewegung (ägyptisch-arabisch für Rebellion) gesammelte Unterschriften für eine vorgezogene Präsidentenwahl - mehr als die 13,2 Millionen Ägypter, die bei der Wahl für den Muslimbruder gestimmt hatten; täglich größere Massendemonstrationen und Ausnahmezustand im ganzen Land, erste öffentliche Entschuldigungen und 'Kompromiss-Angebote' Mursis, Rücktritt und Überlaufen von Mursis politischem Umfeld, inklusive seines Koalitionspartners, Anfang Juli Rücktritts-Ultimatum der Demonstrant*innen an Mursi, vollkommen zerstörtes und geplündertes Hauptquartier der Muslimbruderschaft in Kairo etc.

Ergebnis:

Auch wenn in Ägypten seitdem unter der diktatorischen Militärjunta von Präsident al-Sisi ohne Zweifel 'wie gewohnt' ein menschenverachtendes Folterregime regiert (was allerdings weder Erdoğans noch SPD-Gabriels Sorge ist), welches genauso dringend auf den Müllhaufen der Geschichte gehört wie die vergangene Herrschaft der Muslimbrüder, verbaut es mit seiner eher säkularen Orientierung, der tradierten Loyalität zu Israel und der extrem repressiven Haltung (nicht nur) gegenüber den islamistischen Muslimbrüdern und dschihadistischen Strömungen zumindest Erdoğans Träume einer Beteiligung Ägyptens an seiner 'islamistischen Achse'. Also ein weiteres Land, das – was immer aus Ägypten werden wird – hierfür ausfällt. Die Muslimbrüder werden jedenfalls in keinem Fall an die Macht zurückkehren.


Plakat mit den
Forderungen der Ägyptischen Revolution 2011:
Brot . Freiheit . Würde . Soziale Gerechtigkeit
Vom Koran war nicht die Rede - denn "We are all together":
ob mit oder ohne Kopftuch, Angehörige aller Ethnien, Religionen und Berufsgruppen.
So war es gedacht, und so wurde es während der Revolution auch praktiziert.

Dem gegenüber machte sich Muslimbruder und Präsident Mursi - wie auch Erdoğan in der Türkei - vor allem unbeliebt, in dem er eine immer weitere Islamisierung des Landes auf Kosten von Minderheiten (in Ägypten vor allem die christlichen Kopt*innen, quasi das 'Pendant' zu den Kurd*innen) und anderen Lebensstilen (Alkoholverbote, Einschränkung von öffentlichem Feiern, islamische Ausrichtung der Verfassung und zunehmend auch des Alltags usw.) und die schleichende Aufhebung der Gewaltenteilung betrieb. Während die Wirtschaftslage immer katastrophaler wurde, verstärkte er die Repression (Todesurteile, Ausgangssperren, Notstandsgesetze) und versuchte, alle entscheidenden Posten mit seinen Gefolgsleuten zu besetzen, während die Akteure und Bewegungen, die die Revolution gegen Diktator Mubarak maßgeblich durchgeführt hatten, aus den politischen Entscheidungsprozessen verdrängt wurden. Vieles daran erinnert an die Entwicklungen der letzten Jahre in der Türkei unter Erdoğan.

Anti-Mursi-Demonstrant*innen in Kairo (Ende Juni 2013)
Photo: Reuters via dw.com 28. Juni 2013
Endlose Demonstration für den Rücktritt Mursis in Kairo am 30. Juni 2013
Photo via orf.at

Erdoğans Hoffnungen auf eine Islamisierung des 'Arabischen Frühlings' sind ohnehin im Sande verlaufen: Denn nicht nur das ägyptische Volk wollte letztlich nicht von der Muslimbruderschaft regiert werden (und hat dafür bis heute den schrecklichen Preis der anhaltenden Militärherrschaft zu zahlen), auch die Revolution in Tunesien nahm nicht den von Erdoğan erhofften islamistischen Gang, sondern ging nach einer kurzen islamistisch-geprägten Phase doch noch den Weg hin zu einer inklusiven, relativ säkularen Demokratie. Verbündete nach dem Geschmack von Erdoğan sehen anders aus.

Übrigens wollen – bei einem offiziellen Bevölkerungsanteil von 96 % Muslim*innen (was mir etwas übertrieben scheint) – auch nur 13 % der Bürger*innen der Türkei eine strikte Einhaltung der Lehren des Koran in den Gesetzen des Landes:

Umfrage: Ein Ländervergleich zum Thema Einfluss des Islam auf die Gesetzgebung:
Bemerkenswert zum Beispiel der himmelweite Unterschied der Umfrageergebnisse in den palästinensischen Gebieten (2. von links) und der Türkei (2. von rechts).
Der angenommene Bevölkerungsanteil an Muslim*innen dürfte etwas zu hoch gegriffen sein, da die Statistiken zur Religionszugehörigkeit in der Türkei nur Angehörige anderer Religionsgruppen zählen und den Rest, also zum Beispiel auch Atheist*innen, automatisch als Muslime werten.


EU-Beitritt & Visafreiheit

Auch wenn mittlerweile oft so getan wird, als ob nur der gerade von Erdoğan aus der Regierung geekelte ehemalige Ministerpräsident Davutoğlu 'in die EU wollte', wird gerne vergessen, dass auch Erdoğan immer in die EU wollte. Mit dem auf der Angst vor rassistischen Rechtspopulisten basierenden, widerlichen 'Flüchtlingspakt' von Bundeskanzlerin Merkel und der EU mit der Türkei (siehe dazu meinen Post "Merkel & die EU zwischen AfD und AKP") keimte im AKP-Lager wohl kurzzeitig die nicht ganz unberechtigte Hoffnung auf, Deutschland und der EU große Zugeständnisse abringen, genauer, sie erpressen zu können. Auch mit der von Erdoğan – vor allem aus wahltaktischen Überlegungen heraus – besonders begehrten Visafreiheit für in die EU reisende Bürger*innen der Türkei sah es sehr erfolgsversprechend aus. Hatte ausgerechnet die traditionell eher Türkei-kritische Kanzlerin Merkel zu seinem einzigen außenpolitischen Erfolg verholfen? Ausgerechnet Dank der rassistisch-völkisch-antimuslimischen Stimmungsmache von AfD, Pegida & Co.: leider ja. Jedenfalls sah es für ein paar Monate so aus... oder Wochen... oder, war der ganze Deal – wie alles, was mit dem Namen Erdoğan verbunden ist – nicht von vorneherein auf Sand gebaut?

Ergebnis:

Mittlerweile pfeifen es die Spatzen von den Dächern: es wird keinen EU-Beitritt der Türkei unter Präsident Erdoğan geben. Der Widerstand unter europäischen Politiker*innen, Menschenrechtler*innen und Bürger*innen ist immens (wenn auch leider viel zu oft aus rassistischer und / oder islamophober anstatt aus menschenrechtlicher Motivation heraus). Vielleicht will Erdoğan auch gar nicht (mehr) in die EU. Tatsache aber ist, dass er damit nach Russland und den USA auch die Verbindung zum letzten (? – nun, es bleiben vielleicht noch Pakistan oder Nordkorea...) für ihn relevanten Machtblock verliert. Und sich als Alternative nur sein 'Osmanisches Reich' bauen kann, das derweil durch den von ihm selbst angefachten brutalen Bürgerkrieg gegen die kurdische Bevölkerung schon jetzt von innen rostet und zerfällt.

Und die Visafreiheit? Ich würde sie den Menschen aus der Türkei mehr als gönnen, das wäre einfach nur fair, allerdings hat die EU so lange gezögert, bis sie ausgerechnet jetzt auch noch Wahlkampfgeschenke an den türkischen Despoten verteilen würde. Sie sollte eigentlich auch schon längst verabschiedet sein, aber aufgrund von Erdoğans Weigerung, die Bedingungen dafür zu erfüllen (Änderung seiner undemokratischen Terrorgesetze) erscheint es zunehmend fragwürdig, ob sie noch kommt... So schade ich das als Antirassistin finde, tippe ich eher auf: nein.

In der EU mittlerweile definitiv beliebter als Erdoğan: der in der Türkei von einer Gefängnisstrafe bedrohte (!) kurdische Co-Vorsitzende der Oppositionspartei HDP (Partei der Völker) Demirtaş trifft Bundestagspräsident Lammert und den Bündnis '90/ Die Grünen-Co-Vorsitzenden Özdemir in Berlin
"Our Co-Chair #Demirtaş met #Lammert, President of the Bundestag and #Özdemir, Co-Chair of Alliance '90-The Greens"
Von der englischsprachigen HDP Twitter-Seite @HDPenglish 15 April 16

Während dessen baut die von Erdoğan ebenfalls als "terroristisch" diffamierte kurdisch-multiethnische-linke-LGBTQ-freundliche-feministische Partei HDP (Partei der Völker), deren parlamentarische Immunität im Mai 2016 aufgehoben wurde und deren mit über 10% gewählten Abgeordneten lange Gefängnisstrafen wegen (angeblicher) 'Unterstützung der PKK' drohen, EU-weit ihre diplomatischen Kontakte aus – was sie mittelfristig hoffentlich vor Schlimmerem schützen kann! Und seine anderen kurdischen Erzfeinde aus Syrien (PYD bzw. YPG & YPJ) eröffnen in immer mehr Ländern Botschaften oder offizielle Vertretungen, sind international gern gesehene Gesprächspartner*innen, verlässliche militärische Verbündete der USA und anderer NATO-Staaten und zunehmend sowohl von den USA als auch von Russland (wie zu hören ist, zeigt sich auch Israel mittlerweile interessiert) umworbene Kooperationspartner für eine neue Friedensordnung im Nahen Osten. Dass ausgerechnet die korrupte Führung der Autonomen Region Kurdistan im IS-geplagten Irak (der Klan um Präsident Barzani) mit als letztes noch Erdoğan 'die Stange hält', gehört wiederum zu den Absurditäten kurdischer und irakischer Politik und Geschichte, die hoffentlich bald der Vergangenheit* angehören.

* Nicht zufällig habe ich die Vorstellung der politisch zwiespältigen Autonomen Region Kurdistan im Irak 2014 in einen Post mit dem Titel "The Politics of the In-Between" positioniert (in "The Politics of the Past" wurden der dschihadistische IS / Daesh, europäische Rassisten/Nationalisten/Neonazis sowie der verlogene 'Westen' und seine mörderischen Partner Türkei, Saudi-Arabien & Katar verbannt). Die PKK befindet sich übrigens sowohl in dem Post "The Politics of the In-Between" als auch zusammen mit der YPG & YPJ in "The Politics of the Future", dem mit Abstand populärsten Teil dieser fünfteiligen Serie unter dem Gesamttitel "Von H&M nach Kobanê" aus dem Winter 2014/15.

Siehe meine Posts:
Alle faschistischen Deutschen (AfD)... (März 2016)


Verhinderung der Armenien-Resolution

Das Thema das Völkermords an den Armenier*innen ist nicht nur eines der Vergangenheit:
In den letzten Monaten häufen sich solche Bilder aus der Türkei, in denen türkische Nationalisten, Polizei & Militär den Kurd*innen mit Anspielungen auf den Völkermord an den Armeniern drohen. Sie tauchen überall auf, in Schulen, Universitäten, gestürmten Wohnungen usw.
Hier posiert ein türkischer Soldat in der seit Monaten vom türkischen Militär belagerten türkisch-kurdischen Stadt Nusaybin (April 2016) vor einem Graffito mit den Worten
"Denkt an die Vergangenheit... schaut, was mit denen passiert, die gegen die Türken rebellieren"
"See the past, look what happens to those who rebel against the Turk"
Armenian genocide reference in the Kurdish town of Nusaybin.
Photo & English text via Twitter @DrPartizan_ 14 April 16

Der Völkermord des Osmanischen Reiches, also des Vorgängerstaates der Türkei, an den Armeniern während des ersten Weltkrieges ist unter Historiker*innen ungefähr so umstritten wie die Frage, ob Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg angefangen hat. Vor allem einer sieht das natürlich anders, 'unser' Recep Tayyip Erdoğan! Und so unternahmen er und seine Vasallen (darunter neben seinen zahlreichen Parteigängern auch die sozialdemokratisch-kemalistische 'Oppositionspartei' CHP, die Islamische Gemeinde Berlin und die faschistischen 'Grauen Wölfe') alles, um eine entsprechende, schon lange geplante, aufgrund der ewigen Warnungen aus der Türkei immer wieder verschobene Resolution des Deutschen Bundestages, die den Völkermord auch als solchen bezeichnet, zu verhindern. Die türkischen Nationalisten verhalten sich dabei ähnlich wie deutsche Neonazis, die den Holocaust gleichzeitig leugnen und als positive Referenz benutzen: einerseits wird der Völkermord an den Armeniern geleugnet, andererseits wird mit ihm als Drohung 'argumentiert' (siehe Photo oben und nächstes Photo).

Von der türkischen Polizei besetzte Armenische Kirche in Amed (Diyarbakir) 2016.
Ein Twitter-Account der Türkischen Polizei kommentiert:
"Die Ungläubigen zur Vernunft bringen"
 Armenian Church in Amed occupied by police.
Account run by Turkish police: "Bringing Kuffar (infidels) to reason"
Screenshot & englische Bildunterschrift via Twitter Gilgo @agirecudi 12 Feb 2016

Ergebnis:

Heute morgen, am 2. Juni 2016, hat der Bundestag die Resolution endlich und über alle Parteien hinweg fast einstimmig verabschiedet, auch wenn die üblichen Duckmäuser der Abstimmung "aus Termingründen" (wer's glaubt!) ferngeblieben sind:

"Bundeskanzlerin Angela Merkel, Vizekanzler Sigmar Gabriel sowie Außenminister Frank-Walter Steinmeier nahmen aus Termingründen nicht an der Abstimmung teil." (tagesschau).

Viermal taucht dort das Reizwort "Völkermord" auf. Die Armenier*innen und die Nachkommen der Betroffenen wird diese Geste der Aufarbeitung und Anerkennung genauso freuen wie die kleine Minderheit der türkischen Christ*innen und die Kurd*innen, die schon aus eigenem Interesse genau hinschauen, wenn es um die lange Geschichte der Verfolgung, der Unterdrückung und des Mordens an ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei geht. Erdoğan hat auch in diesem Fall 'verloren'.


Fazit / Refrain

Die Türkei unter Präsident Erdoğan ist ein international zunehmend isoliertes, unbeliebtes und von kaum einer politischen Kraft noch Ernst genommenes Land geworden. Schade ist das vor allem für die Menschen in und aus der Türkei, deren eigentlich schönes Land dieser Präsident und seine AK Partei zutiefst zugrunde gerichtet haben. Zeit für einen Machtwechsel!

Es lebe die Völkerfreundschaft - Nieder mit dem AKP-Regime!

Neue Initiativen für die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen!

Aber auch für die in der EU, Nordamerika oder Australien lebenden Menschen gilt es aufzustehen gegen die widerliche Kooperation unserer Herrschenden mit der Türkei der AKP. Neben einem Drängen auf die überfällige politische Anerkennung der selbstverwalteten Region Rojava in Syrien bedeutet das zuallererst:

Stoppt das Schweigen zu den Menschenrechtsverletzungen der Türkei!
Stop #TurkeysWarOnKurds!
Keine Kriminalisierung der kurdischen Bewegung in der EU!
Weg mit dem PKK-Verbot!


Editorische Anmerkung:

Zum Thema der hahnebüchenden Kollaboration 'des Westens' (EU / Deutschland, NATO, USA) mit Erdoğans Syrien-Politik war schon ab Sommer 2015 ein Artikel mit dem Arbeitstitel "Erdoğan dreht durch – Der Westen macht mit!" geplant. Es war die Zeit nach der Befreiung von Tall Abyad in Rojava und dem Wahlerfolg der kurdischen HDP in der Türkei (siehe meinen Post "Der kürzeste Weg nach Tall Abyad", an dessen, von düsteren Vorahnungen geprägtem Ende ich Erdoğans folgendes 'Durchdrehen' bereits angedeutet habe). Themen jenes Sommers 2015 waren die türkischen Provokationen an der Grenze zu Rojava, die immer offensichtlichere Zusammenarbeit mit Daesh in der Grenzregion, die Massaker in Kobanê1 und Suruç2, die von der NATO tolerierte Bombardierung der PKK im Nordirak, das Schweigen über den beginnenden Krieg gegen die Kurd*innen3 im eigenen Land. Doch die Ereignisse überschlugen sich schnell und kurz darauf verschob sich der Fokus immer mehr von Syrien auf den von Erdoğan begonnenen Krieg in der Türkei. Einige dieser Themen habe ich zeitnah oder später in gesonderten Posts ausführlich behandelt:
1 Das Letzte Massaker der Dschihadisten (Juni 2015)
2 K(l)eine Lehren aus Paris (Nov 2015)
3 #TurkeysWarOnKurds (Januar 2016)

Außerdem war mir schon früh aufgefallen, dass – gerade was die Syrien- und Türkei-Politik Obamas angeht – was gesagt wird und was real geschieht, nicht unbedingt das Gleiche sein muss, weshalb ich mich dazu entschloss, vor allem die Politik der USA erst einmal weiter zu beobachten. Wie sich seitdem herausgestellt hat, durchaus keine schlechte Idee, denn mittlerweile glaube ich Obamas Politik gegenüber Erdoğan zu durchschauen: er sagt "Jaja, ich verstehe die türkische Haltung..." usw., lässt ihn reden, aber macht weiter genau, was er (und ich in diesem Falle übrigens auch) für richtig hält: zum Beispiel den IS zu bekämpfen und zwar zusammen mit den Kurd*innen nicht nur im Irak, sondern eben auch in Syrien. Inzwischen mehren sich positive Anzeichen, dass andere Länder und Politiker*innen so langsam aufwachen und – wie wir gerade in diesem Post gesehen haben – in ganz verschiedenen Bereichen dem 'Vorbild' der USA folgen könnten: Erdoğan toben lassen. Daher habe ich die Überschrift modifiziert und Thema und Beispiele ausgeweitet.

Die Idee dieses Posts kann gerne von kreativen Menschen in andere Kunstformen übertragen werden, zum Beispiel, war da nicht was, ein Lied? Vielleicht ein Fall für die in diesem Blog so sträflich vernachlässigte Rap- und HipHop-Szene...? Einen YouTube-Video? Neue Karikaturen? Graphiken & Landkarten? Mal sehen.

Zeitungen und Magazine, die Interesse an einer Veröffentlichung einer gekürzten oder anderweitig modifizierten Version haben, können sich gerne bei mir melden:

oder via DM auf Twitter @magentanetzwerk

Die Autorin ist MA Kulturwissenschaftlerin, Kunstwissenschaftlerin und Germanistin und u. a. Kulturveranstalterin, Kuratorin, Referentin, Übersetzerin, freie Journalistin und Bloggerin und lebt in Berlin.